tohuwabohu     22. Juni     23. Juni     24. Juni     2012

 

Der Wiener Dichter Ernst Jandl ist im Juni 2000 gestorben, seine Gedichte jedoch leben weiter. Sie leben weiter als sprachliche oder gedankliche, akustische oder visuelle Experimente und Spiele, die nachvollzogen werden wollen, die benutzt werden wollen. Seine Gedichte muss man in den Mund nehmen um ihr Leben zu erfahren. Gedichte müssen gesprochen werden. Nicht nur auf der Bühne, auch ganz privat zu Hause.

Ernst Jandl würde sagen: Ein tohuwabohu kann etwas Schlechtes sein, ein tohuwabohu kann auch etwas Gutes sein. Und als ein tohuwabohu erscheint unter manchem Blickwinkel Jandls Leben. Seine literarisches Werk spiegelt dieses Durcheinander, das der Dichter mal als Bereicherung, jedoch oft auch als Bedrohung seines Seelenfriedens wahrnahm, zweifach wider: Erstens ist auch bei Jandl das innere Getrieben-Sein der Hauptmotor für eine künstlerische Produktion, die 17 Gedichtbände und zahlreiche ‚freistehende’ prosaische, dramatische, lyrische und wie-auch-immer-zu-nennende Texte umfasst. Zweitens ist das Werk ungewöhnlich bunt: Jandl ist nicht nur ein Konkreter, nicht nur ein Sound-Poet, weder nur visueller Dichter, noch ausschließlich Tiefsinn-Schürfer. Man reduziere ihn nicht auf Wortspiele oder hermetische Dichtung! Jandl ist das alles. Und deshalb nie langweilig.

Der vitalste Aspekt an Jandl ist nicht erst nach seinem Tod die Jandl-Musik: Musik zu, mit und nach Jandl. Der Wiener Wortwinder ist mit Sicherheit der zeitgenössische deutschsprachige Dichter, der am häufigsten von Musiker vertont oder auf andere Weise künstlerisch bearbeitet worden ist und immer noch wird. Denn trifft sein Werk auf weitere Spielernaturen, so ergibt sich fast zwangsläufig eine künstlerische Melange die es in sich hat. Und wie bei Milch und Wiener Kaffee ergibt sich auch bei Musik und Wiener Lyrik eine heiße und spannende Mischung! Bis heute sind, mit und ohne Ernst Jandls Beteiligung, nahezu vierhundert Jandl-Musik-Stücke entstanden.

Der im letzten Jahr verstorbene Dietmar Mues, der viele Jahre mit seinem Freund und Kollegen Dieter Glawischnig in furiosen Konzerten die Gedichte Jandls gesprochen hat, bezeichnete seinen Kontakt mit Jandls Werk als Landung auf dem „Planeten Jandl“. Denn hat man erst einmal einen Fuß auf dieses Rund (oder ist es eckig?) gesetzt, gibt es kein Zurück mehr, stattdessen aber viel zu entdecken: Jedes einzelne Gedicht wieder ein tohuwabohu, hier ist nichts glatt außer der hohen Stirn des Dichters! Es kracht und stampft, es irritiert und brüskiert, es schweigt und harrt der Interpretation. Achtung, da läuft ein Gedicht! (oder fliegt es?) Man sah auch schon Leute lachen. Ein tohuwabohu kann etwas sehr Gutes sein! Wer sucht, findet fast immer ein System, Regeln eines Spiels. Und wer mag, der macht einfach mit und erweckt die Zeilen auf dem Papier zum Leben: Spricht sie, schreit sie, stöhnt sie, singt sie auch, flötet sie, oder schickt sie durch sein Euphonium. Auch auf den Tasten eines Klaviers machen sie sich gut, es muss nicht immer ein Saxophon sein … Ernst Jandl tut man damit einen großen Gefallen, ruft er doch: jazz me, if you can! (Fotos von Helmut Moser)


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